Arbeiten, wo andere Urlaub machen bzw. dort arbeiten, wo es schönes Wetter, angenehme Menschen und gutes Essen gibt – das klingt schon mal gut, das ist bestimmt „Freiheit“ von hiesigen Zwängen genug. Es bleiben ja noch genügend.
Die „Pistenkuh“ etwa zieht es aus den entferntesten Gegenden immer wieder zur Familie nach Deutschland zurück – und zu den Allrad- und Abenteuer-Messen, auf denen sie sich und ihre Buch- und Filmprojekte vorstellen und vertreiben. Von Familie Koch (die durchaus kein Selbstverständnis als „digitaler Nomade“ pflegt) weiß man, dass die pekuniäre Grundlage ihres Freiheitsanspruches in harter Arbeit vor vielen Jahren und Aktiengeschäften liegt; das heißt aber auch, dass sie vom Auf und Ab der Börsenkurse teilweise abhängig sind. Und obendrein scheint es die aufwändig produzierten Reiseführer in Text, Stand- und Bewegtbild zu brauchen, um zusätzliches Geld in die Kasse zu bringen.
Ich aber würde es nicht als „Freiheit“ empfinden, bei Expeditionstouren jedes Geländemerkmal ins Diktiergerät zu sprechen, um das Rohmaterial mit GPS-Daten zu ergänzen, aufwändig zu überarbeiten u.ä. (da hätte ich ja, was ich zu Zeiten unseres Krav Maga Centers hatte: Anstelle das zu tun, was man gerade gerne möchte, ruft die Arbeit: Dies noch erledigen, jenes noch durchschauen – lauter Produktionspflichten, um die ökonomische Existenz zu gewährleisten). Oder Kooperationen mit Fahrzeug-Ausbauern und -Ausstattern einzugehen, die dann in den Sozialen Medien präsentiert werden. Und obendrein zum Leben auf Achse quasi gezwungen zu sein, um gegenüber Käufern & Kunden, die in Sachen Reise-Freiheit nacheifern wollen, nicht unglaubwürdig zu werden.
Ist es „Freiheit“, wenn man sich permanent und teilweise exzessiv via Blog- und Vlogposts, Newsletter, Instagram, Facebook, Youtube etc. selbst darstellen und mehr oder weniger anpreisen und Aufmerksamkeit erheischen muss? Wenn man im nicht enden wollenden Getrommel um die eigene Person all der Selbstdarsteller in den sozialen Medien mithalten muss, um nicht im Getöse unter zu gehen? Wenn ich Aufträge akquirieren muss? Wenn Annahme- und Abgabefristen einzuhalten sind, wie sie in jedem Medien-Gewerbe üblich sind?
Marketingbegriff „digitales Nomadentum“
Immerhin: Herman Unterwegs, Amumot, Crosli, Campofant und Pistenkuh und Co. haben so ein probates Geschäftsmodell aufgebaut – was ihnen zu gönnen ist.
Freilich scheint es angesichts zahlreicher Online-Kongresse zum digitalen Nomadentum andere Exemplare dieser Spezies als die vorstehend Genannten zu geben, die zwar selbst kein funktionierendes eigenständiges Business aufgebaut haben – wohl aber eins, anderen zu erzählen, wie toll das sei und wie man dahin komme. Dabei kann man sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, es gäbe mehr Ausbilder als Ausübende des digitalen Nomadentums. „Digitales Nomadentum“ ist bei diesen möglicherweise nichts weiter als ein Lockvogelbegriff…
Kein Geld, keine Freiheit
Unterm Strich: Niemand kann sich dem kapitalistischen Weltwirtschaftssystem entziehen, in dem – Kalle Marx lässt grüßen – alles zur Ware wird. Immer geht es letztlich ums Geld. Kein Geld, keine Nahrung. Kein Geld, kein Sprit. Kein Geld, keine Ersatzteile. Kein Sprit und keine Ersatzteile => keine Bewegungs-Freiheit. Pech, wenn man an einem noch so schönen Strand mit einem schweren Defekt festsitzt, und kein Geld hat, das Fahrzeug zu reparieren. Gestrandet und keine Chance, sich fortzubewegen? Aus ist’s mit der Freiheit.
Wer nichts besitzt, hat auch nichts zu verlieren – das ist ein trügerisches Dictum zur Freiheit. Wenn ich nichts oder wenig besitze, bin ich dann frei von Zwängen? Gibt es mehr oder weniger Entscheidungs- und Bewegungsfreiheit(en)? Besitz belastet? Wer nichts besitzt, ist vielleicht auf nichts angewiesen, aber hat er die Freiheit zu entscheiden, wohin er geht, was er tut?
„Freiheit“ mag sein,…
- wenn man nichts wegen Geld bzw. Einkommen machen muss
- wenn man eine Aktivität aus reinem „Spaß an der Freud‘“ unternimmt
- die Abwesenheit bzw. Minimierung von Zwängen
„Frei“ kann also sein, wer wenig braucht und begütert ist, im wahrsten Sinne des Wortes. Das neumodische Schlagwort der „digitalen Nomaden“ vom „passiven Einkommen“ ist nichts weiter als eine marketingaffine Verbrämung von „begütert sein“ – mit irgendwas hat man sein Einkommen erwirtschaftet oder Besitz oder Vermögenswerte angehäuft, und das reicht jetzt, um bei reduzierten Ansprüchen gut leben zu können. Die einen spekulieren erfolgreich mit Wertpapieren, die anderen verfügen über ererbten, vermietbaren Immobilienbesitz, die dritten müssen sich als digitale Dienstleister vermarkten; einige haben ihre Firma verkauft.
Wer nichts hat, ist immer auf das angewiesen, was er vor Ort vorfindet. Und er ist keineswegs frei, weil zumindest in der jetzigen Gesellschaft & Wirtschaft ein Agieren ohne Geld unmöglich ist. „Agieren“ zu können beinhaltet ein Moment an Freiheit, „Re-agieren“ nicht.
Dritter Teil der Serie „Abgesang: Freiheit und Nomadentum“.
Alle Teile in chronologischer Reihenfolge:
Abgesang Freiheit & Nomadentum, Teil I (Wissenschaft)
Abgesang Freiheit & Nomadentum, Teil II (Besitz & Bewegung)
Abgesang Freiheit & Nomadentum, Teil III (Geld)
Abgesang Freiheit & Nomadentum, Teil IV (Gott)