Während der Pandemie-Jahre von 2020 bis 2022 stellte ich fest, dass ich mehr Resilienz aus meiner Krav Maga-Erfahrung schöpfen konnte denn aus dem Achtsamkeitskontext. Im MBSR-Verband gab (und gibt es) Zoom-Sitzungen (etwa den so genannten „Achtsamkeits-Salon“), in denen vor allem die eigenen Sorgen und Ängste verhandelt wurden. Das ist gewiss legitim und sinnvoll. Doch mir ging es dabei zu viel um Selbst-Fürsorge, das Umarmen des eigenen inneren ängstlichen Kindes u.ä. – und zwar in einer sehr defensiven Weise (mein ruppiges inneres Selbst nennt diese „weinerlich“). Die Vitalität, das Selbst-Vertrauen, der offensive (Über-)Lebenswillen des Krav Maga-Trainings war dort nicht zu spüren.
Natürlich habe ich Achtsamkeits-Inhalte in der Hoch-Zeit der Coronavirus-Pandemie bewusst wie unbewusst praktiziert: ruhig atmen, durch-atmen, sich auf den gegenwärtigen Moment konzentrieren. Die Situation so anzuerkennen und zu nehmen, wie sie ist. Im Achtsamkeitskontext gerinnt dies aber zu oft in eine passive Haltung. Wenn es im Krav Maga auf-den-Moment-bezogen heißt: „Always be ready for the next five minutes„, dann gesellt sich „always be ready to pick up a fight in seven seconds“ dazu – und auch wenn das Wort „fight“ eine gewalttätige Situation impliziert, so ließe es sich doch auf alle möglichen Zustände übertragen.
Kaum war die Hoch-Phase der Pandemie vorüber, da überfiel Wladimir Putins Russland die Ukraine. Ganz „always be ready…“ war ich entsetzt, aber nicht überrascht und schon gar nicht gelähmt. Putin hat einen anderen typischen Krav Maga-Spruch lebendig werden lassen: „In life there is enemy…“ – und selbst im Podcast des buddhistischen Meditations- & Achtsamkeitszentrums Plum Village stimmten die Protagonisten überein, dass im Falle der malträtierten Ukraine freundlich-fromme Sprüche nichts nützen und gewalttätige Selbstverteidigung zulässig sei.
Krav Maga vermittelt eine offensive Vorwärts-Haltung, nicht eine der defensiven Hinnahme. Ich weiß, dass meine MBSR-Ausbilder mich kritisieren und mir vorhalten würden, dass ich Achtsamkeit zu „passivistisch“ sehe – indes, die grämlichen Gesichter, die mich in zahllosen Zoom-Bildschirmbildchen der „Achtsamkeits-Salons“ anblickten, sprechen – für mich – eine andere Sprache.
Vier Wochen im Februar Aufenthalt in Südafrika (meine 5. Reise dorthin, plus zwei nach Namibia) haben mich weiteres gelehrt. Vor allem, in dieser Zeit Achtsamkeit kein einziges Mal „formal“ praktiziert zu haben. Vielmehr sogar das Gefühl gehabt zu haben, dass es nicht nötig ist, und mir auch nicht fehlt. Was daran gelegen haben mag, dass die Fahrt durch Wildnis & Wüste im südlichen Afrika, auf großen und kleinen Schotter- & Sandpisten eine Art integrierte Achtsamkeit mit sich bringt.
Natürlich ist Achtsamkeit nicht dasselbe wie Aufmerksamkeit oder Wachsamkeit. Aber letztere spielen – wenigstens für mich – hinein. Ich habe mich gefragt, ob einen tatsächlich die tagtäglich zu spürende Unsicherheit – die eine vermehrte Wachheit und Wachsamkeit mit sich bringt – zum „Leben im Hier und Jetzt“ bringt. In den Savannen des südlichen Afrikas ist zu beobachten, wie vorsichtig & umsichtig alle Tiere im Busch sind. Es gibt überall & jederzeit einen Fressfeind. Und auch für die großen Raubtiere ist die Jagd ein Risiko; werden manche Großkatzen übel von Büffeln oder Stachelschweinen zugerichtet.
In der Kalahari wird man angewiesen, bei nicht umzäunten Camping- und Picknickplätzen immer die Sanitäranlagen vorsichtig zu betreten – Löwen legen sich wegen des Schattens gerne in diese Gebäude. Nach Einbruch der Dunkelheit gilt es besonders auf giftige Schlangen, Skorpione und Spinnen zu achten; festes geschlossenes Schuhwerk ist ratsam. Nimmt man einen Snack auf so einem Picknickplatz zu sich, kreist das innere Radar unentwegt und scannen die Augen immer wieder die umliegenden Hügel…
Man kann dabei entspannt sein. Es ist nicht so, dass man permanent Angst hat. Das eben nicht. Aber es gibt eine kontinuierliche Konzentration auf das, was eben gerade geschieht, was eben gerade angesagt & was das Wichtigste jetzt in diesem und den nächsten paar Momenten ist. „Always be ready for the next five minutes“ und „always be ready to pick up a fight in seven seconds“ (auch wenn der „Kampf“ nur darin besteht, zum Fahrzeug zu rennen und dessen Türen hinter sich schnell zu schließen).
Dabei geht es nicht bloß um Tiere: Man fährt in der Kalahari an Dutzenden vom Blitzeinschlag zerborstenen und verkohlten Bäumen vorbei und beginnt, die Wolkenbildung genauer zu beobachten und wahrzunehmen. Man möchte als einziges Metallobjekt und obendrein eines der höheren nicht unbedingt in einen sich recht schnell bildenden Thunderstorm hineingeraten… (die Aluminium-Karosserie eines Land Rover taugt nicht zum Faraday’schen Käfig!).
Ich hatte die etwa zweijährige Ausbildung zum Wildnispädagogen bzw. Coyote Teacher (die also so lang dauerte wie die zum MBSR-Lehrer) begonnen, weil ich der Natur näher sein und sie besser verstehen, eine intensivere Bindung praktizieren wollte. Auch, weil die Naturwahrnehmung des Wildnispädagogen das Reisen so viel intensiver macht. In der Wildnispädagogik lernt man u.a., auf das zu achten, was man gerade nicht bewusst und gezielt wahrnimmt: Was entgeht dir gerade jetzt?
Und so versuche ich auf Reisen, die Zeichen der umgebenden Natur – der Tier-, der Vögel-, der Pflanzen-, der Baum-, der Stein-, der Wind-, Wolken- und Wetter-Welt – immer besser zu interpretieren. Es ergibt sich eine – Wortspiel – natürliche Achtsamkeit, weil in der Wahrnehmung von dem, was einen unmittelbar umgibt, der vollständige Fokus auf das Geschehen im Moment liegt. Natürlich geht es bei der nicht um buddhistisch gefärbte spirituelle Achtsamkeit. Aber es geht sowohl um „outer tracking“ wie „inner tracking„.
Alan Watts (-> Wikipedia), 1973 gestorbener britischer Religionsphilosoph, hat großen Anteil an der Popularisierung von östlicher Philosophie und Spiritualität in der westlichen Welt. Häufig bissig, immer ironisch und selbst-ironisch sah er das Leben als Tanz des Universums, in dieser Hinsicht mehr vom Taoismus als vom Buddhismus geprägt. So schrieb er:
The only way to make sense out of change is to plunge in, move with it, and join the dance… Like a wave crashing over you, as you get tousled by its energy flow through it and swim with it. You’ll come through it and emerge on the other side. Let it remind you that you are stronger than you think.
Take on the wave with grace, move along with the process, and get things in order so you can live your dreams; and as always, focus on the task at hand.
„And as always, focus on the task at hand“ – im Krav Maga-Jargon klingt das so: Focus on the next step, the next mission. Wen wundert’s, dass ich das Kraftvolle bei Alan Watts immer sehr geschätzt habe.