Die Wildnispädagogik, das Coyote Mentoring, hat ihre Nebenaspekte. Wir wenden uns der Natur nicht technisch-wissenschaftlich zu, sondern versuchen, sie in ihrem Wesen, ihrem Kern kennenzulernen und zu verstehen. Wir versuchen, brachliegende oder vernachlässigte Pfade eines intuitiven Naturverständnisses wieder zu begehen – und wir orientieren uns dabei an den überlieferten Lehren der Naturvölker.
Das Coyote Mentoring ist in den USA entstanden, von Jon Young entwickelt nach den Lehren seines Mentors Tom Brown jr., der wiederum Stalking Wolf seinen Ältesten nannte… und somit liegt der Bezug zu den nordamerikanischen Ureinwohnern nahe. Die Kernroutinen sind indianisch geprägt; ebenso nutzen wir das Mittel der Danksagung als solche bzw. als Formel für das Sitzplatzprotokoll.
Kräfte der Natur
Wildnisschulen im Zeichen des Coyote Mentorings lehren Leben und Überleben im Einklang mit der Natur. Es geht dabei freilich nicht um Survival im engeren Sinne, denn dieses besteht darin, in einer Notsituation so schnell wie möglich aus der Wildnis wieder in die Zivilisation zu kommen. Im Coyote Mind möchte man in und mit der Natur leben; es handelt sich eher um Bushcraft, gepaart mit dem Respekt für die (auch spirituellen) Kräfte der Natur.
Unsere “Bibel” dabei ist der “Coyote Guide”, und den bestellte ich beim Adler Buchversand, der sich besonders indianischer und schamanischer Literatur widmet. Als ich das Buch aufschlug, fielen mir ein paar Flyer entgegen; darunter einer, der fürs diesjährige Medizinradtreffen warb. Darauf erblickte ich das Foto eines Mannes, den ich bei meinen buddhistischen Schweige-Retreat im Hunsrück (“Natur, Meditation und Dharma”) kennen- und schätzen gelernt hatte.
Das Medizinrad
Neugierig geworden, erinnerte ich mich eines Buches, das ich in den 80er Jahren gelesen hatte: Das “Medizinrad” von Sun Bear & Wabun. Vom Verlage eher irreführend mit “eine Astrologie der Erde” untertitelt. In der Wikipedia heißt es zu Sun Bear:
Er vertrat eine eklektische Version indianischer Spiritualität, die er aus den Traditionen verschiedener Völker zusammensetze. Mitte der 1980er Jahre stieg er aus dem Filmgeschäft aus und lebte als Kursveranstalter. Sein Bear Tribe gewann eine große Anhängerschaft unter weißen New-Age-Interessierten, insbesondere in Deutschland.
Tatsächlich existiert der Bärenstamm e.V. noch immer in der Bundesrepublik, und er richtet alle zwei Jahre das Medizinradtreffen mit diversen indianisch inspirierten Ritualen und Zeremonien, mit Singen und Schwitzhütten, Referenten aus diversen kulturellen Kontexten (in diesem Jahr u.a. nepalesische Schamanen und ein weißer “Sangoma”, also afrikanischer Medizinmann). Im O-Ton:
Die Mitglieder dieses Stammes eint das Bestreben, so schreiben sie selbst, die Erde zu schützen, ihr Kraft und Liebe zurückzugeben und daran selbst zu wachsen:
Wir lernen neu, wie wir mit Pflanzen, Tieren und Menschen umgehen und von ihnen lernen können und wir arbeiten zusammen mit der Kraft und Energie von Mineralien und Steinwesen. Und wir lernen, den Respekt der und ihren Lebewesen gegenüber zu verinnerlichen.
Als wir eintrafen, wurden wir sehr freundlich und neugierig als Neulinge begrüßt, natürlich unser Auto bestaunt. Zuvor waren Beate und ich zwei Tage auf dem jährlichen TCM-Kongress in Rothenburg ob der Tauber gewesen – das ist so was wie die große Jahresveranstaltung in Sachen chinesischer Medizin, die ja Beate in ihrer Sport- und Naturheilpraxis praktiziert.
Das ist eine ziemlich wohl etablierte, gut organisierte, riesige Veranstaltung von rund einer Woche Dauer; eher einem Ärzte-Kongress vergleichbar als einem Esoteriker-Treffen. Das Medizinradtreffen entspringt dagegen nicht nur einem anderen kulturellen und historischen Kontext als der TCM-Kongress, sondern kommt auch vergleichsweise hemdsärmelig daher – in diesem Jahr standen Schwitzhütten und Zelte im Park von Schloß Sinnershausen abgelegen in der Rhön.
Chinesische Medizin und indianisches Medizinrad
Der Wechsel von der chinesischen zur indianischen Medizin war ein wenig abrupt, nur wenige hundert Kilometer und Stunden Fahrt trennten die beiden Orte. Während der TCM-Kongress nahezu unüberschaubar in all seinen Veranstaltungen, Vorträgen und Referenten ist, glänzte das Medizinradtreffen durch eine wunderbar familiäre Atmosphäre.
Im Park des Schlosses konnte eigentlich jeder jeden und jede sehen und sprechen. Und für jemanden, der ein tieferes Naturverständnis über einen oberflächlichen Blick hinaus entwickeln will, war es eine zielführende Veranstaltung. Statt in Seminarsälen ordentlich zu sitzen, glühten wir in Schwitzhütten und frönten den Ritualen der Wassergießer und lagen schließlich bar jeder Kleidung auf der kühlen Mutter Erde.
Hörten schamanische Trommeln und Rasseln, sangen gemeinsam Verse,…
the river she is flowing
flowing and growing
the river she is flowing
down to the seamother carry me
your child I will always be
mother carry me
down to the sea
… hüteten des heilige Feuer und ließen uns vom aus Steinen gelegten Medizinrad im Park und seinen Tier-Totems inspirieren.
Hokuspokus? Esoterische Spinnerei? Ich glaube nicht: Wer einen intuitiveren Naturbezug entwickeln will, wird das mit technisch-naturwissenschaftlicher Denke zwangsläufig nicht erreichen. Da helfen nur Rituale und Zeremonien der Ahnen und Vorfahren. Die zu praktizieren heißt ja nicht, jedes Wort für bare Münze zu nehmen. Sondern sich einer wertvollen Inspirationsquelle zu bedienen.
Wir verließen das Medizinradtreffen vorzeitig, hatten noch eine Visite auf dem Wochen-Plan: Meinen Ex-Kommilitonen OJ auf seinem naturgeschützten Gelände oberhalb von Bad Homburg mit weitem Blick auf Frankfurt zum Lagerfeuer samt Grillen zu besuchen, und die Nacht im Unimog bei etwaiger Wildschwein-Beobachtung zu verbringen.
Dieses Unternehmen führte uns zurück in die Welt der Rationalität: Denn OJ ist ein durch und durch liberaler wie logischer Analytiker des politökonomischen Weltgeschehens, in den USA aufgewachsen und als Entwicklungshelfer auf allen Kontinenten der Welt permanent unterwegs. Wir haben uns während meines Studiums der Japanologie, Politik- und Sozialwissenschaften kennen und schätzen gelernt – er bedient eine andere Seite in mir: die des akademischen Diskurses.
Also: Chinesische Medizin – Buddhismus – Medizinrad – Logik & Rationalität. Großes Durcheinander? Eher große Offenheit. Letztere ist wohl einer der wichtigsten Eigenschaften, wenn man auf Reisen in ferne Länder nicht in der Beschränktheit der eigenen festgelegten Weltsicht befangen bleiben will. Und wozu sollte man reisen, wenn nicht, um zu lernen?