Die „MS Expedition“ hat die Antarktische Halbinsel erreicht und bewegt sich in Richtung Paradise Bay. Um 6.30 Uhr ertönt täglich der Weckruf der Expeditionsleitung, von sieben bis acht Uhr ist Frühstückszeit. Kaum gegessen, heißt es schon: Bitte in den „Mudroom“ im Schiffsbauch hinten kommen und fertig machen zum Kayaken.
Zwei- bis dreimal täglich gibt es Ausflüge auf die umliegenden schnee- und eisbedeckten Inseln und Halbinseln. Die meisten Passagiere werden dick verpackt mit Rettungswesten ausstaffiert in militärerprobten Zodiac-Schlauchbooten vom Mutterschiff an Land und zurück manovriert. Die Kayak-Truppe wird gesondert ausgesetzt und sitzt jeweils zu zweit in einem Boot. Das Dutzend Paddler entfernt sich zügig von Schiff wie Schlauchbooten, denn sie möchten den Vorteil der weitgehenden Lautlosigkeit nutzen.
Die roten Kayak-Körper sind denen der örtlichen tierischen Anwohner mit Ausnahme der Farbe nicht unähnlich: ob Wal, Delfin oder Robbe. Und die Geräusche der Paddelschläge sind denen von Flossen nicht unähnlich. Die Schrauben der Außenbordmotoren dagegen erzeugen Töne und verursachen Wirbel im Wasser, die die Tiere meiden. In den Kayaks sitzt man mit Thermo-Unterwäsche in einem komplett wasserdichten Überlebensanzug und ist an allem näher dran.
Die „MS Expedition“ kurvt um Cuverville Island und wirft Anker in Neko Harbour. Dort können wir gar mit den Kayaks an Land gehen. Manchmal bietet sich aber auch eine Land-Exkursion zu Pinguin-Kolonien an; dann wechseln wir in wasserdichte gefütterte Hosen und die Antarktis-Parkas. Tatsächlich ähnelt die Reise in der antarktischen Halbinsel einem Krav Maga-Trainingscamp in Israel – die Kabine quillt über von jeweils auslüftenden Klamotten fürs Kayaken bzw. das Anlanden und Wandern.
Sturmvögel & Raubmöven, Wale und Robben
Dazu kommt die Kleidung, die man an Bord trägt, und die so beschaffen sein muss, dass man schnell nach draußen in die Kälte an die Reling kann: Falls ein Buckelwal vorbeischwimmt. Ein Sturmvogelschwarm sich ums Schiff tummelt; Raubmöwen – Skuas – anfliegen, Sturzkampfbombern nicht unähnlich. Vielleicht gar ein Albatross dabei?
Ruhe an Bord kehrt kaum ein: Ein Briefing folgt dem anderen, ein Meeting zwecks Koordination dem anderen. Da sich das Wetter jederzeit abrupt ändern kann, sind alle Pläne fakultativ. Immerhin stecken wir mitten im Eis. Captain und Crew, die wissenschaftlicher Leiter und die Kayak-Guides entscheiden kurzfristig, was als nächstes unter Wahrung der Sicherheitsregeln machbar ist. Bei sonnigem Wetter suggeriert die Antarktis Sorglosigkeit. Doch jede Exkursion – speziell in den den Elementen ausgelieferten Kayaks – gleicht einer Gratwanderung. Die Guides wissen um ihre Verantwortung.
Durchsage: „Kayakers! Wir gehen raus…!“ Wir hasten in den „Mud Room“ und lassen die Boote zu Wasser. Nebel liegt morgens auf der ruhigen See, kein Wind, ein Meer voller blau-weißer Eis-Brocken und -Berge. Drei dösende Robben liegen entspannt auf einer Eisscholle – das machen sie gerne und oft. Sind das Robben? Oder Seelöwen? Oder See-Bären? Oder Weddell-, Ross- oder Krabbenfresserrobben? Keinesfalls See-Elefant, aber womöglich… ein See-…Leopard.
Es gibt tatsächlich See-Leoparden. Der macht seinem Namen alle Ehre: rund 600 kg schwer, etwa 3,60 m lang, hinten sorgt ein Doppel-Flossen-Antrieb für Speed. Nach den Orcas, den Killerwalen, der zweitpotenteste Räuber in diesen Gewässern. Sein Reptilienkopf verfügt über ein furchterregendes Gebiss zahlloser scharfer Zähne, und im englischsprachigen Biologiebuch zu Säugetieren der Antarktis steht lässig zum Leopard Seal: „Very inquisitive, but can be dangerous“.
Leopard Seals wanna have fun?!
Diese Worte schießen durch meinen Kopf, als ich bei einem Paddel-Ausflug schräg hinter mir etwas höre. Unsere regelmäßigen Armzüge schaufeln das Wasser leise gurgelnd, aber da scheint noch ein weiteres Geräusch zu sein. Ein kontinuierlich wiederkehrendes Schnaufen oder Prusten. Ich blicke rechts über die Schulter – und erkenne tatsächlich den unverkennbaren Kopf eines See-Leoparden beim Auftauchen und Atmen. Unser Tempo hält er mühelos, und vor allem – er scheint neugierig auf diesen roten Plastik-Fisch mit vier gelben Flossen, die links und rechts ins Wasser tauchen.
„Very inquisitive, but can be dangerous“. Der will nur spielen? Im antarktischen Eiswasser wird man in jedem Fall nur ungern aus dem Boot gekegelt, und ob der Leopard Seal nur schubst und schnuppert oder doch mal kosten will? Mit Pinguinen machen See-Leoparden sowohl das eine wie das andere. Manchmal servieren sie auch lebendige oder tote Pinguine offensichtlich lebensunfähigen Tauchern in Gummi-Anzügen – wie eine National Geographic-Geschichte belegt:
„Paddel schneller!“ rufe ich nach vorne, ohne lange Erklärungen. Für die ist wirklich keine Zeit, indes kommt natürlich prompt die Gegenfrage: „Wieso?“ – Antwort: „Frag nicht. Paddel schneller!“ Als Beate realisiert, worauf es ankommt, legt sie sich ins Zeug – nicht ohne Versuch, den See-Leoparden zu fotografieren bzw. zu filmen. Zugegeben: National Geographic-Fotograf Paul Nicklen liefert bessere Qualität.
Aber Flucht oder Film – es geht nur eines, und auch wenn wir niemals schneller als der See-Leopard vorwärts kommen können, so verfolge ich doch eine Idee: Hin zu den Zodiacs, zu den Schlauchbooten mit den lauten Außenbordmotoren mit ihren Propellern unter Wasser – vor denen nehmen Wasser- und Unterwasserbewohner meist reißaus.
Tatsächlich verschwindet der See-Leopard. Schade, Kumpel. Vielleicht wolltest du nur spielen? Vielleicht wolltest du sagen: Reich‘ mir die Flosse, Genosse! In jedem Fall, ein unvergleichliches Erlebnis – ist schon eine Antarktis-Tour für alle Passagiere ein once-in-a-lifetime-Ereignis, so kann wer schon von sich sagen, dass er mit einem See-Leoparden um die Wette gepaddelt ist? Zumindest während der G-Expedition-Tour im März 2015 wird dies allein uns vorbehalten sein.