Reisen können in äußere Landschaften führen – und in innere. Eigentlich ist beides immer gleichzeitig der Fall. Im besten Fall kommen Touren in beide Regionen zusammen zustande. Doch das ist meist nur der Fall, wenn man sich der Wahrnehmung seiner inneren Landschaft bewusst widmet.
Der Wildnispädagoge spricht von „Wilderness Awareness“, dem bewussten Erleben von Natur und Sein in der Natur unter Einschaltung bzw. Aktivierung (für die meisten von uns gilt wohl: Re-Aktivierung) aller Sinne. Auch versucht man als Coyote Mentor bei seinen Schützlingen den Sinn fürs „outer tracking“ – die Spurensuche in der äußeren Landschaft – samt „inner tracking“, also der Spurensuche in der inneren Landschaft zu wecken.
Awareness und Mindfulness
Der Achtsamkeitslehrer kommt dem Wildnispädagogen an dieser Stelle entgegen, und spricht von einer Achtsamkeit, die zwar „awareness“ – also Bewusstheit – beinhaltet, aber mit dem englischen Begriff „mindfulness“ darüber hinaus geht: Achtsamkeit beinhaltet in diesem Kontext eine weitgehende Spurensuche im eigenen Inneren: Das Gewahrsein von Körperempfindungen als Ausdruck emotional-mentaler Regungen, von Geräuschen, von Gefühlsregungen und Gemütszuständen; etwa in Reaktion auf äußere Impulse.
Am vergangenen Wochenende hatte ich Gelegenheit, die eigene Praxis in dieser Hinsicht zu pflegen. An einem kleinen See nahe eines wenig bekannten Ortes im Vogelsberg parkte ich mein mobiles Heim auf vier Rädern am Rande des Ufers, umgeben von Feld und Flur, Wasser und Wald, um ein kurzes persönliches Retreat zu zelebrieren. Ganz unter dem Motto: Me, myself and I.
Dass angesichts eines sommerwarmen Wochenendes noch einige Badegäste samt Partyjugendlichen den Weg ans Gestade fanden, nimmt nicht Wunder. Doch geht es bei Achtsamkeitsübungen nicht darum, den Status auf einer abgelegenen Insel ohne Einwohner zu simulieren. In paradiesischen Zuständen, ist es leicht, keinen Stress zu empfinden. Meditation aber, das Praktizieren der Stille, kann sehr wohl in geschäftiger Umgebung stattfinden. Wenn sie sich bewähren will, muss sie das sogar. Es geht um die Stille in sich.
Persönlichkeitsentwicklung ist im Grunde genommen von Spiritualität nicht zu trennen – geht es doch dabei darum, herauszufinden, wer man ist und was man will bzw. von seinem Leben erwartet. Wie kann man seine Persönlichkeit entwickeln, wenn man sich diesen Fragen nicht widmet? The best version of yourself zu werden – dieser Weg kann gar zu leicht in der Sackgasse der Selbstoptimierung landen, wenn das Transzendentale vergessen wird.
Verkümmerte Sinne in Stadt-Mauern
Und da wir die Nachfahren von Menschen sind, die zehntausende von Jahren in der Natur gelebt haben, ja vielmehr die Kenntnis der Wildnis eine Voraussetzung fürs Überleben war, und da wir uns erst seit wenigen Jahrhunderten in die Gefängnisse der Haus- und Stadtmauern begeben haben, können wir im Draußen am meisten lernen. Unsere Sinne aktivieren, unsere Wahrnehmung, in Kontakt mit unserem Körper und damit unserem Wesen kommen – mit unserem ur-sprünglichen Selbst.
In den Achtsamkeitsübungen machen wir uns mit unseren Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen vertraut – und mit unserem Körper: Wer mit seinem Körper in Kontakt ist, hat einen besseren Kontakt zu seinen Emotionen. So Grenzen wahrzunehmen und die eigenen Bedürfnisse zu erkennen, ist das Fundament, auf dem alle anderen Ressourcen ruhen.
Sich den Nachbarn vorstellen
Dabei geht es nicht um Sport oder Fitness. Und es muss auch nicht Yoga in einem gesitteten Studio sein. Wach in der Wildnis zu sein, bedeutete etwa am vergangenen Wochenende für mich, in der Frühe am Rande des Sees zu meditieren … später einen Scouting Run die Hügel rauf und runter und rund um den See zu absolvieren, in Barfußschuhen auf Feld- und Waldwegen (Füße sind Geh-Fühler!), um die pflanzlichen und bäumischen Anwohner der Umgebung kennenzulernen, und Spuren von Tieren zu entdecken… und sich somit allen Nachbarn aus Fauna und Flora vorzustellen und ihnen den gebührenden Respekt zu erweisen.
Und, nein, ich habe dabei keine Bäume umarmt. Auch wenn es bei einem Scouting Run nicht auf Tempo und Durchschnittsgeschwindigkeit ankommt, so ist es dennoch ein Lauf und kein Spaziergang. Und schwimmen ist schwimmen, und nichts anderes. Dehnungs- und Mobilitätsübungen sind genau das, und nichts anderes.
Wechsel von geistiger und körperlicher Arbeit
Im zen-buddhistischen Kloster habe ich die Tagesstruktur kennen gelernt, bei dem die Sitzmeditation von Geh-Meditation gefolgt wird bzw. bei der sich die Meditationen mit Phasen körperlicher Aktivität wie Haus- und Gartenarbeit abwechseln. Seither pflege ich im stationären wie im mobilen Heim den Wechsel von eher geistiger Arbeit bei körperlicher Ruhe (wie meditieren, lesen, schreiben, denken, planen, konzeptionieren, organisieren) mit körperlicher Aktivität (wie ordnen & aufräumen, pflegen & warten, basteln & reparieren, laufen & schwimmen, kayaken & klettern, Krav Maga und Yoga, etc.).
Das alles lässt sich in der Natur, besser noch in der Wildnis (sofern sie in Deutschland überhaupt noch existiert), besser praktizieren als in geschlossenen Räumen. Draußen werden unsere verkümmerten Sinne wie archaische (Überlebens-)Instinkte reaktiviert – man er-lebt so viel intensiver. Daher widme ich mich auch dem Werfen eines Jagd-Speeres, wie ihn die Kalahari-Buschmänner bei ihren Ausdauer-Hetzjagden nutzen. Nicht wegen eines praktischen Nutzens, sondern weil es einen archaische Existenz erfahren lässt.
Als Anarch unterwegs
Henry David Thoreau hat geschrieben: Natur ist vollkommene Freiheit und Wildheit. Reinhold Messner sagt im Interview: „Wenn ich in die Wildnis gehe, bin ich als Anarch unterwegs“. Nur den Regeln und Bedingungen des eigenen Selbst in Relation zur herausfordernden Natur unterworfen.
Darum geht‘s beim Wach-Sein in der Wildnis.