Wir fahren in Genua mit einigen Wohlstandsflüchtlingen an Bord der italienischen Fähre nach Marokko. Ein schweizer und ein österreichisches Ehepaar entfliehen dem europäischen Wohlstand in hochausgerüsteten Offroad-Trucks aus den Produktionshallen renommierter Edelschmieden. Satte 500.000 Euro auf wuchtigen Geländereifen rollen da in den Bauch der „Excellent“.
Wir gehören letztlich auch zu denen, die Simplizität und Reduktion in der Ferne suchen, aber unser Unimog ist knapp 40 Jahre alt, dauernd defekt, die grüne Farbe blättert in breiten Placken ab, die Kratzer zeugen von vielfältigem Kontakt mit Akazien – und unsere Stoffwechselendprodukte sammeln wir in einer sehr improvisierten Trocken-Trenntoilette, die hauptsächlich aus einem Plastikmüllbeutel und Katzenstreu besteht.
Unser Fahrzeug gehört zur Low-Budget-Klasse. Und selbst damit, soviel ist klar, steht da mehr Geld auf Rädern rum als manche Berber-Familie im Atlas in ihrem ganzen Leben verdienen wird.
Dazwischen die verbeulten und hemmungslos überladenen Uralt-Sprinter der marokkanischen Händler, vornehmlich aus Italien, der Schweiz und Frankreich. Sie haben den Wohlstandsmüll der mitteleuropäischen Reich-Nationen geladen – Kinder-Fahrräder etwa, alle intakt, alle gut erhalten, aber für den Nachwuchs in der Festung Europa nicht mehr gut genug. Die Händler kaufen und klauben solcherlei zusammen, um es in ihren Heimatregionen zu verscherbeln oder die eigene weitverzweigte Familie in einer abgelegenen Region zu versorgen.
Die Händler pflegen einen recht einheitlichen Kleidungsstil, gerne Jogging- und ähnliche Sporthosen von Adidas, kombiniert mit Polo-Shirts, abgewetztem Jackett und Badelatschen. Wir Mittel-, Mittelstands- und -schichtseuropäer sind leicht daran zu erkennen, dass wir wie die Nachfahren von „Wüstenfuchs“ Rommel gekleidet sind.
Und dann sind da noch ein paar Freaks und (Kite-)Surfer, die an die marokkanische Atlantikküste hin zu Brandungswellen und Sonnenbrand flüchten. Und/oder auch zum Konsum bewusstseinsbeeinflussender Pflanzen.
Einer von ihnen hat sein uraltes Wohnmobil mit Kasseler Kennzeichen, dass 100 Liter Wein im Wassertank gebunkert hat, neben uns in die Warteschlange vor die Fähre gestellt, und erzählt von den wilden Partys mit allen Exzessen der 90er, seinem Bierverkaufsstand, dessen Umsatz er mit den Gratis-Beigabe von Strapsen aufgemöbelt hat und reicht uns zur Vormittagszeit einen Pappbecher mit einer Wodka-Bitterlemon-Mischung rüber, dass wir uns fragen, wo der Bitterlemon geblieben ist.
Er ist im Iran geboren, aber in Stuttgart aufgewachsen, sein Deutsch ist demgemäß nicht akzentfrei – der schwäbelnde Sound ist nicht zu verkennen. Außerdem ist der Mann bei der LINKEN engagiert und bringt mit ein paar Kumpels abgetragene Klamotten in einer Art privaten Hilfsaktion nach Marokko. Tatsächlich haben auch wir unsere heimischen Kleiderschränke auf Verschenkbares durchsucht.
Unterwegs wird es, das wissen wir von früheren Marokko-Reisen (diese ist die vierte), immer wieder Situationen geben, wo man armselig gekleideten Menschen begegnet. Manche werden glücklich sein, wenn man ihnen etwas schenkt, manche werden (sehr) aufdringlich betteln; man könnte auch sagen: fordern. Es wird dann zu entscheiden sein, wie wir damit umgehen.
Unsere Wohltätigkeit jedenfalls wird vermutlich bei den Händlern eher auf weniger Gegenliebe stoßen – so was macht ihnen die Preise kaputt. Vielleicht aber werden wir auch in Regionen unterwegs sein, die noch nicht mal die Händler bedienen. Oder eben auf Leute stoßen, die sich noch nicht mal die Wohlstandsmüll-Waren der Händler leisten können.
Auf der Fahrt gen Genua haben wir eine Nacht auf einem Autobahn-Parkplatz nahe Freiburg übernachtet, inmitten von Lkw-Geschwadern mit osteuropäischem Billigpersonal an den Lenkern. Sie fahren Wohlstandswaren auf und ab und speisen die nimmermüde Wohlstand-durch-Wachstum-Maschinerie. Man darf die Vermutung hegen, dass wiederum die mitteleuropäischen Wohlstandsflüchtlinge in einfache und zurückgebliebene Regionen fahren, aus denen Leute in die mitteleuropäischen Wohlstandszonen wollen, die aber die mitteleuropäischen Wohlstandsflüchtlinge, wenn sie in ihre Heimat zurückgekehrt sind, dort nicht haben wollen.
Alles klar an Bord der Andrea Doria? (Nein, unsere Fähre ist die „Excellent“…)