Doch beim Pokerspiel um Dollars und Demokratie hat Beijing einen geladenen Revolver unter dem Tisch
Zwei Protagonisten des alten wie neuen Hongkongs residieren im noblen Admiralty Centre in der Harcourt Road: Martin Lee, Chef der größten Oppositionspartei, leitet seine Anwaltskanzlei nur einige Stockwerke entfernt vom Büro Elley Maos, der Chefökonomin der Regierung. Noch immer fahren in Hongkong die Rolltreppen schneller als anderswo in der Welt, gehen die Fahrstuhltüren schneller zu, liegt ständiges Handy-Geklingele in der Luft, wird permanent gedrängelt. »Business as usual« – wahrer konnte das Wort nicht werden als in Hongkong im Herbst 1997.
Wenn Hongkong ins Wanken gerät, dann durch Währungsspekulation, nicht durch Einflußnahme der Beijinger Oberaufsicht. Martin Lee gilt unter Journalisten als erste Adresse, wenn es um Fragen der demokratischen Zukunft Hongkongs geht. Der in feines Tuch gekleidete Anwalt, der als Mitglied einer kleinen Elite den Titel »Queen’s Counsellor« führen darf, war prominentes Mitglied des zwei Jahre vor der Übergabe an China gewählten Parlaments.
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Straßenszenen in Hongkong 1997
Daß Britanniens letzter Gouverneur Chris Patten den Hongkongern nach mehr als 150jähriger Fremdherrschaft kurz vor Torschluß noch die Demokratie bescherte, ging den neuen Herren in Beijing gegen den Strich. Sie ersetzten mit Hilfe eines 400 Mitglieder starken Wahlkomitees von eigenen Gnaden das demokratisch gekürte durch ein handverlesenes Organ, den »Provisional Legislature Council«, kurz Legco. In dem hatte Martin Lee natürlich keinen Platz.
Der Anwalt, erfahren im Kreuzverhör der anglo-amerikanischen Rechtsprechung, hat einen Sinn für Symbole. Sein weitläufiges Büro schmücken Bilder von großen Demonstrationen für Demokratie in Hongkong, ein kleines Modell der Freiheitsstatue steht – zufällig? – in einem Bücherregal. Den Fotografen und Fragestellern präsentiert er sich der Mann mit den scharfen Gesichtszügen und dem nicht minder scharfen Verstand routiniert. Keine Frage, Martin Lee ist ein Politprofi, den Umgang mit Medien gewohnt. Der Chef der Demokratischen Partei, die im gewählten Parlament die meisten Sitze einnahm, räumt ein, daß der neue Regierungschef Tung Chee-Hwa sich bisher mit Eingriffen in die Hongkonger Freiheiten zurückgehalten hat.
Revolver unterm Tisch
Chinas Mann hat den Knüppel bisher im Sack gelassen, doch Martin Lee gibt sich keinen Illusionen hin: »Die Situation gleicht einem Pokerspiel, bei dem wir gewinnen, aber die andere Seite einen Revolver in der Tasche hat.« Nach wie vor herrsche in Beijing die Vorstellung, den Geist wirtschaftlicher Freiheit aus der Flasche zu holen, den der politischen aber drinnen zu halten. Die fürs Frühjahr angesetzten Wahlen zu einem neuen Parlament seien weit davon entfernt, demokratisch zu sein: Nur 20 der 60 Sitze würden von den Hongkongern direkt bestimmt. Weitere 20 küren »functional constituencies« – Berufsgruppen wie Ärzte, Sozialarbeiter undsoweiter« und noch einmal 20 Parlamentarier werden von einem 800 Köpfe starken Wahlkomitee ausgesucht, die von den Berufsgruppen delegiert werden. Die Folge, sagt Martin Lee: »Beijing gewinnt immer.« Hat er überhaupt eine Chance gegen den übermächtigen Gegner? »Wenn wir nicht kämpfen, haben wir keine Chance!«.
Elley Mao gehört zu der Hongkonger Bürokratenelite, die unverändert von der Tung-Regierung übernommen wurde. Daß die weitgehend korruptionsfreie Verwaltung unangetastet blieb, gilt vielen als Zeichen dafür, daß man in Beijing verstanden hat, wie das Modell Hongkong läuft. Die Hoffnung der Hongkonger beruht zu einem Gutteil darauf, daß China das Huhn, das goldene Eier legt, nicht schlachten wird. Elley Mao sieht Hongkong als »Kanal«, als Kapitalbedarfszentrum für China, ein »Fenster zur Welt«. Daß sich in Hongkong nichts geändert hat, sieht sie von ihren Wirtschaftsstatistiken bestätigt: 1997 gab es, Handover hin oder her, fünf Prozent Wachstum bei 6,5 Prozent Inflation, gestützt von heimischer wie externer Nachfrage, Konsum und besonders dem Kauf von Immobilien. Geld ist genug in der Kasse.
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Straßenszenen in Hongkong 1997
Das hat auch damit zu tun, daß es in Hongkong kein Sozialversicherungssystem nach deutschem Muster gibt. 15 Prozent Einkommenssteuer ist das Maximum in einer Wirtschaftsphilosophie, die Regierungssprecher Joe Cheung folgendermaßen umreißt: »In Deutschland dagegen nimmt der Staat den Leuten das Geld weg und verteilt es zugunsten der Gemeinschaft um. Wir lassen den Leuten ihr Geld und sie entscheiden selbst, wofür sie es ausgeben.« Daß auf den Straßen Hongkong viele 60- bis 80jährige zu sehen sind, die ihren Lebensunterhalt für ein kümmerliches Entgelt beispielsweise mit Toilettenputzen bestreiten müssen, bestreiten die Regierungsoffiziellen zwar nicht. Elley Mao aber hält Armut für ein relatives Problem. Nach einer kürzlich erstellten Studie gelten 14 Prozent der Hongkonger als arm, doppelt so viele wie vor zehn Jahren, doch das ficht die Chefökonomin nicht an: Je reicher die Hongkonger Gesellschaft, desto mehr wachse eben der Anteil der als arm Geltenden. Tatsächlich aber, so resümiert sie: »Jedem geht es besser, bei manchen geht es halt schneller.«
Unweit vom Admiralty Tower spielen sich Absurditäten des Hongkonger Alltags vorm altehrwürdigen Parlamentsgebäude ab. Gleich zwei Demonstrationsgruppen bauen sich vor den Türen auf, doch nicht um Freiheit und Demokratie geht es. Eine größere von Herren mittleren Alters in Hemd und Krawatte entpuppt sich als Bürokratentrupp, der sich gegen Kritik wehrt; eine kleinere, kaum ein Dutzend, protestiert gegen die Klimaanlagen in Gebäuden der Stadtverwaltung. Rita Fan, Präsidentin des Provisional Legilative Council, hat im Parlamentsgebäude indes Wichtigeres zu verhandeln: Das Hohe Haus legt die Marschroute für die Wahlen im kommenden Frühjahr fest.
Hongkong, Singapur, Malaysia
Für Rita Fan hat es eine erhebliche Veränderung seit dem 1. Juli gegeben: Hongkong wurde von einer Kolonie zu einem Teil Chinas – ohne Krieg und Aufruhr. Die Losung der Frau Beijings könnte lauten: »Stell dir vor, es gibt einen bedeutenden Wechsel, und keiner merkt’s!« Die 60 Mitglieder des provisorischen Parlaments wurden von Beijing auserkoren, doch das ist in Fans Augen kein demokratischer Rückschritt: Schließlich handele es sich nur um eine Übergangslösung, die demokratischer sei als die britische Kolonialherrschaft bis 1995.
Die Parlamentspräsidentin hält nichts vom Hopplahopp zur Demokratie über Nacht, wie sie es nennt: »Das ist in vielen Ländern schiefgegangen.« Außerdem stehe Hongkong im hart im Wettbewerb, ein langsamer Übergang zu mehr Demokratie sei besser – damit reflektiert sie nicht nur die Meinung Beijings, sondern auch die Überzeugung der autokratischen Chefs von Singapur oder Malaysia: Daß demokratische Freiheiten der wirtschaftlichen Entwicklung nicht unbedingt förderlich sind.
Keine Identität mit dem Staat
Dem widerspricht Martin Lee energisch. Innerhalb des politischen Spektrum Hongkongs vertritt er die Interessen seiner Gesellschaftsschicht und eines Teiles der Geschäftsleute, die die liberale Demokratie als unerläßlich fürs Business erachten. Auch Christine Loh, Kopf der »Citizens Party«, ist eine Vertreterin der Bürger des modernen Hongkongs. Im Gegensatz zu Lee aber hält sie das demokratische Bewußtsein der Hongkonger für schwach entwickelt. Nach 150 Jahren politischer Fremdbestimmung kein Wunder, sagt sie.
Bei Christine Lohs Bürgerpartei geht es eng zu. In einem kleinen Büro in einem der funkelnden Wolkenkratzer in Hongkongs Distrikt Central sitzt die erfolgreiche Börsenmaklerin. Sie hat ihren Beruf aufgegeben und steht mittlerweile der Bürgerpartei vor, gerade mal 50 Mitglieder hinter sich. Das derzeitige System nennt die kämpferische Frau »das merkwürdigste in der Welt«; in Hongkong gelte es vor allem, politisches Bewußtsein zu entwickeln. »In einer Kolonie gibt es keine Identität mit dem Staat,« sagt das ehemalige Mitglied des gewählten Parlaments, »man sieht sich nicht als jemand, der am politischen Geschehen teilnimmt.« In Asien fürchteten die Menschen Macht und Einfluß, sie sähen sie nicht als Elemente, die ihnen zu dienen hätten. Im Gegensatz zur Regierung bedeutet der Handover für Loh nicht die langersehnte Rückkehr in die gelobte Heimat: »Wir kommen zu China wie ein fremdes Land.«
Immer noch besser als in China
Ähnlich wie die Demokratische Partei wollen Lohs Parteifreunde Hongkongs politische Struktur nicht auf den Kopf stellen. Marktwirtschaft und privates Unternehmertum, der freie Fluß der Informationen, niedrige Steuern, ein verläßliches Rechtssystem will die Citizens Party erhalten, allerdings soll die Politik mehr bei sozialen und Umweltfragen regulierend eingreifen. Im Gegensatz zur Regierung sieht die Partei Lohs allerdings die Armut in Hongkong, von der katastrophalen Umweltsituation ganz zu schweigen: Bruttosozialprodukt und Pro-Kopf-Einkommen dürften nicht die einzigen Maßgaben Hongkonger Lebensqualität sein, erklärt Loh.
Han Dongfan, aus China geflüchteter Gewerkschafter, hält das Hongkonger System keineswegs für fair: »Jeder kann tun was er will? Für die Mehrheit der Leute ist Erfolg nicht möglich.« Daß Chinesen »geborene Kapitalisten« seien, wie immer wieder gerne kolportiert, hält er für Unsinn: »Ich hatte ein Möbelgeschäft und bin Bankrott gegangen, weil ich mich geweigert habe, den Leuten ihren Lohn vorzuenthalten wie die anderen.« So handele eben kein guter Geschäftsmann. Han stimmt mit Christine Loh überein: »Es gibt keine bewußte Bürgerschaft in Hongkong, nur Anwohnerschaft.« Aber er sagt auch: »Die alten Leute, die auf dem Markt noch Geld verdienen müssen – das ist immer noch besser als die Lebensbedingungen in China!«