1300 ehemalige vietnamesische Boat People sitzen in Hongkong fest
Im einzigen Zimmer ihrer Barackenbehausung sitzt Nguyen Thi Thuoih, eine Frau mit tiefen Falten im Gesicht und leiser Stimme, im Schneidersitz auf dem Boden. Ein schmales Bett, eine schmuddelige Dusche in der Ecke, außer einem Fernseher, einem Bücherbord und einem Kruzifix gibt es kaum Inventar in dem schummerigen Zimmerchen. Die 42jährige lebt mit ihrem Mann und sechs Kindern im Alter zwischen 13 und 21 Jahren auf neun Quadratmetern. Nachtruhe, das bedeutet dicht gedrängt in der schwülen Luft nebeneinander auf der Matratze oder dem Boden zu liegen.
Ihr Vater, ein Katholik, hatte für die Franzosen gearbeitet und landete 1986 bei dem Versuch, Vietnam zu verlassen, im Gefängnis. Nguyen Thi Thuoih hatte mehr Glück, ebenso eine Schwester, die bis nach Kanada durchkam. Außer den Festlandschinesen lockt Hongkong nach dem Handover eine zweite Gruppe von Zuwanderern: aus Vietnam die Boat People.
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Bildergalerie: Flüchtlingslager Pillar Point in Hongkong
Doch »Asyl« ist in Hongkong schon lange kein Zauberwort mehr. Es auszurufen bedeutet spätestens seit 1988, nach der nahezu sicheren Ablehnung der Abschiebung in einem öden Auffanglager zu harren. Vorher wurde keinem Flüchtling die Asylberechtigung abgeschlagen. Wer das Glück hat, anerkannt zu werden, kann in einem politischen Niemandsland landen – wie die 1300 politischen Flüchtlinge aus Vietnam, die in den schäbigen Holzbaracken des Lagers Pillar Point bei Tuen Mun seit einem Jahrzehnt darauf warten, von einem Drittland aufgenommen zu werden. Sie sind der Rest der Boat People, die seit Ende der 70er Jahren zu Zehntausenden aus Vietnam flüchteten, sind der Rest derer, deren Flüchtlingselend die Herzen der Deutschen rührte und die Spendensäckel füllte. Das Hilfsschiff »Cap Anamur« versuchte damals, Schiffbrüchige aus den piraten- und haiverseuchten Gewässern zu retten.
In Pillar Point leben unter den Fittichen des UNO-Flüchtlingskommissariats UNHCR die anerkannten Asylbewerber in Baracken. Ein Zaun riegelt das Lager von der Außenwelt ab, allerdings können die Boat People hinein und hinaus, ebenso draußen arbeiten. Eine Hälfte von ihnen lebt nicht im Camp, die andere schätzt die Gemeinschaft und den Umstand, im Lager keine Miete bezahlen zu müssen. Die Hilfsorganisation »Medecins sans frontieres« unterhält ein Krankenhaus im Lager. Geld für Pillar Point gibt es von der Stadt und UNHCR genug, sagen die MsF-Vertreter John Bridle und Paula Callahan, den Flüchtlingen ginge es so schlecht nicht.
Drogenabhängige Boat People
Seit 1988 warten die Boat People, daß ein Drittland sie aufnimmt, denn Hongkong gilt als »port of first asylum«, was bedeutet, daß auch ein anerkannter Flüchtling nicht bleiben kann. Für rund tausend der Pillar-Point-Vietnamesen indes scheint Hongkong zur Endstation zu werden. UN-Deputy Field Officer Paul Meredith: »Sie haben kleinere Verbrechen begangen oder Drogenprobleme, damit nimmt sie kein Land der Welt auf.« Drei Viertel der erwachsenen Männer gelten als heroinabhängig. 200 haben Chancen, irgendwo auf der Welt unterzukommen.
Das einfachste Lösung wäre, alle 1300 in Hongkong zu integrieren – doch die Regierung zögert seit Jahren, Vietnamesen zu Hongkongern zu machen, solange sie es Festlandschinesen verwehrt. »Wenn man sie während der alkoholträchtigen Feiern zum Neujahrstag einfach freiließe, würde es keiner merken«, sagt Meredith augenzwinkernd. Denn, angesichts der früheren Flüchtlingszahlen: »Eigentlich ist unsere Arbeit hier eine Erfolgsstory.« Der Mann aus Michigan hofft auf eine baldige Entscheidung der Regierung: »Nach den Handover-Feierlichkeiten gab’s erst mal den ‚Hangover‘, dann kamen die Ferien.«
Aufruhr im Auffanglager
Pillar Point ist ein Relikt des Vietnamkrieges. Das UN-Flüchtlingskommissariat möchte denn auch sein 20jähriges Engagement in Südostasien beenden. Zu den Hoch-Zeiten des Vietnam-Exodus‘ arbeiteten bis zu 200 UNHCR-Mitarbeiter in Hongkong, nunmehr sind es gerade ein Zehntel davon. Mehr als 200.000 Vietnam-Flüchtlinge fanden in Hongkong vorübergehend Obhut.
Neue anerkannte Flüchtlinge gibt es kaum mehr. Ein Jahr vor dem Handover nahm der Druck Chinas zu, die im März noch 5600 in Hongkong lebenden Boat People zu repatriieren. »Freiwillige« Rückkehr wurde mit Vergünstigungen gefördert: Ein Ventilator in der Lagerbaracke, etwas Geld zur Existenzgründung in Vietnam. Viele mochten trotzdem nicht. Gegen die erzwungene Rückkehr gab es in den Auffanglagern Demonstrationen, im Mai vorigen Jahres wurde ein Lager bei einem Aufruhr gar abgefackelt.
Port of First Asylum
Eigentlich sollten die Lager zum Zeitpunkt der Übergabe leer sein, doch die vietnamesische Regierung sträubte sich, vor allem chinesischstämmige Boat People aufzunehmen. So gab es vor wenigen Wochen noch 6000 Vietnamesen in Hongkong – Kinder werden in den Lagern geboren, neue Ankömmlinge bevölkern die Baracken mit ihren Dreifach-Stockbetten. Wer heute zwei Wochen übers Meer geschippert ist, landet im Auffanglager oder muß seine Reise fortsetzen, sofern das Boot genügend in Schuß ist. Daß der Vater für US-Soldaten Cola-Dosen in der Gegend herumgefahren hat, reicht für die Anerkennung als politischer Flüchtling nicht aus.
Derzeit überlegt die Regierung gar, Hongkongs Status als »port of first asylum« abzuschaffen. Gerade weil wieder mehr Flüchtlinge kommen, 1200 in diesem Jahr bislang. Im vergangenen waren es insgesamt 1038 gewesen. Die Kinder in den Lagern gehen zur Schule, wachsen mit vietnamesisch, chinesisch und englisch auf. Sie hätten gute Integrationschancen, in Hongkong, wie überall auf der Welt, ist Paul Meredith sicher. Während Ngyuen Thi Thuois Mann auf dem Bau arbeitet, verdient ihr 21jähriger Sohn Geld als Ladendekorateur in Stadtteil Mongkok. Kanada hat sein Einwanderungsbegehren kürzlich zurückgewiesen, bleiben würde er mit seiner schwangeren Frau gerne in Hongkong – wenn die Regierung ihn nur ließe.