Auf Hochhausdächern leben zahllose Hongkonger
Lee Man-ko ist einer von denen, die es geschafft haben – auf das Dach eines neunstöckigen Wohnhauses im Bezirk Yaumatei. Der 52jährige lächelt schüchtern, ein kleiner Mann mit faltigem Gesicht, schiefen Zähnen und nicht zu bändigendem Haarschopf. Vor 25 Jahren hat ihn der schiere Hunger aus dem chinesischen Weizhao getrieben. Alleine vier Tage marschierte er durch die Berge Guangdongs, drei Stunden lang schwamm er durchs haiverseuchte Meer, bis seine Hände Hongkonger Land berührten.
Damit war er aufgenommen ins Wunderland, denn die bis 1980 geltende »touchbase«-Politik nach bestem britischen Sportsgeist garantierte jedem, der durchkam, den Aufenthalt. Jahr für Jahr kletterten so die Einwandererzahlen. 200.000 kamen schließlich 1979 ins Land, und damit hatten die Briten vom Fairplay die Nase voll. Seither nimmt Hongkong pro Tag 150 Festlandschinesen, die bei den chinesischen Behörden einen entsprechenden Antrag gestellt und mit einem Bestechungsgeld vorangetrieben haben, auf.
Hongkongs Bevölkerung zählt mehr als sechseinhalb Millionen Menschen. Die Hälfte lebt in oft heruntergekommenen öffentlichen Wohnsilos, aber es existieren weit primitivere Unterkünfte, sagt Sozialarbeiterin Kalina Tsang von der Society for Community Organisation (SOCO): 10.000 »cage people« hausen in gerade mannsgroßen Käfigen. Rund 400.000 Menschen leben in winzigen Betonverschlägen, die in Hochhausetagen gegossen wurden und in die gerade ein Bett paßt. Weitere 180.000 in Bruchbuden wohnen auf den Dächern.
Zu den Lees geht es ein enges, stickiges, abbruchreifes Treppenhaus hoch, jedes der Stockwerke extra mit einer abgeschlossenen Gittertür gesichert. Auf dem Dach stehen vier Sperrholz-Hütten. Ringsherum wachsen Wolkenkratzer in den Himmel. Schuhe, Bürsten, Töpfe, Kleidung stapeln sich in notdürftig zusammengezimmerten Regalen vor der Eingangstür von Lees Behausung. Über drei Zimmer verfügt die Familie, der Hauptraum mit dem gefließten Boden dient auch als Küche, der Kühlschrank steht weit offen. In ihm finden sich Eier und Margarine, außerdem Schuhe, Haarspangen und andere Dinge, die ahnen lassen, daß der Kühl- tatsächlich als Kleiderschrank dient.
In den beiden Nebenzimmern stehen zwei Doppelstockbetten, auf dem Boden davor liegt eine Matratze. Damit sind die Räume ausgefüllt. Acht Menschen schlafen hier, den sechs Kinder dient das untere Stockbett als Schreibtisch für die Hausaufgaben. Tapetenfetzen hängen herunter, aus den Löchern in den Wänden bröseln Sperrholzschnipsel. Um die schwüle Sommerhitze Hongkongs zu ertragen, stehen alle Fenster auf, surren drei Ventilatoren. Keine Bilder an den Wänden, kein Hausaltar: Lee fürchtet Ärger mit dem Besitzer seiner Hütte. Kalina Tsang ist überzeugt, daß die Bretterverschläge häufig von den Triaden, der chinesischen Mafia, in Auftrag gegeben werden. Illegal errichtet, duldet sie die Hongkonger Regierung, um die »rooftop-people« nicht auch noch als Obdachlose auf der Straße zu haben.
Wenig essen, billig einkaufen
Für die Dach-Unterkünfte wird offen auf der Straße geworben, Lee und seine Leidensgenossen kommen so an rechtsfreie Räume. Den Profit streichen Triaden und Vermieter ein, erklärt Kalina Tsang: Sollte die Polizei die Hütten abreißen, haben allein die »rooftop«-people als Mieter oder Käufer das Nachsehen.
Abend für Abend greift Lee zum Telefon, um sich nach Arbeit für den nächsten Tag zu erkundigen. Rund 8000 Hongkong-Dollar – etwa 2000 Mark – kriegt er monatlich zusammen, 5000 Dollar muß er für die Hütte berappen, Strom und Wasser zählen extra. Findet Lee keine Arbeit auf dem Bau, springt seine Frau Leung Ming-yuk ein, als Bedienung oder Putzhilfe. »Weniger essen und billig einkaufen« lautet seine Losung, um über die Runden zu kommen.
Hart, arm, traurig
Lee fristet sein Dasein erst seit einem halben Jahr auf dem Dach, vorher lebte die Familie in einer Wohnung von der Größe eines Bettes. Es geht also aufwärts. Lee wartet, wie rund 150.000 Hongkonger, auf einen Platz im öffentlichen geförderten Wohnungsbau. 1991 bewarb er sich, und wäre die jüngste Tochter nicht, wäre die vorgeschriebene siebenjährige Wartefrist bald zu Ende. So aber zählt die Aufenthaltszeit des Nesthäkchens der Familie, die fünfjährige Wai-heung.
Indes will die Hongkonger Regierung staatseigene Wohnungen privatisieren. »Das können sich die Armen natürlich nicht leisten«, erklärt Kalina Tsang, »Folge: Die Zahl der ‚rooftop-people‘ wird eher steigen.« So oder so: Lee wird arbeiten, bis die Kinder für sich selbst sorgen oder er umfällt: Sozialversicherungen gibt es nicht, ein Besuch in einer öffentlichen Klinik kostet 30 Hongkong-Dollar, bei einem Arzt 150 Dollar. Aus dem Hongkonger Sozialtopf löffeln allenfalls die Ärmsten der Armen Brosamen. »Das Leben ist sehr hart«, meint Lee Man-ko ungebrochen, »wir wären aber noch ärmer, wenn wir traurig wären.«